Montag, 22. Juni 2009

Modelle und Religion

Als ich meine Diplomarbeit geschrieben habe, habe ich oft das gleiche mathematische Objekt aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Man kann in der Mathematik viele überraschende Ergebnisse erhalten, wenn man zwei Objekte, die aus einem gewissen Blickwinkel völlig verschieden erscheinen, aber aus einem anderen gleich sind, plötzlich miteinander identifiziert.

Wenn man über einen Menschen nachdenkt, dann kann man ihn verstehen als eine Atomsammlung. Man kann die Atomsammlung mit Formeln beschreiben und das Verhalten jedes Moleküls recht exakt verstehen, aber wenn der Atomhaufen vor dir steht und eine Waffe in der Hand hat und auf dich zielt, dann bringt dieses Modell, selbst mit viel Computerunterstützung, praktisch nichts für die Antwort auf die Frage, ob der Atomhaufen vorhatt, dich umzubringen. Um das zu beantworten, ist es viel nützlicher, das Gegenüber als Agent aufzufassen, mit Zielen, einem Gedächtnis, einem Auffassungshorizont und einem Verhaltensrepertoire. Es kämen auch etliche andere Modelle in Betracht, aber ich nehme an, der geneigte Leser glaubt mir sofort, dass dies die zwei Modelle sind, die alle Menschen intuitiv beherrschen: Der Mensch als physisches Objekt und der Mensch als Agent mit Zielen.

Die Religionen erkennen diesen Schein-Widerspruch und lösen ihn auf, indem sie Menschen in "Körper und Geist" trennen. Es lohnt sich, sich klar zu machen, dass diese Teilung erst durch uns kommt. Und nicht zufällig trennen wir exakt in die zwei Teile, die eine Spezies unserer Größe und Art intuitiv beherrschen muss, um in unserer Umwelt überleben zu können. Anders gesagt: Ein Wasserläufer wäre auf so eine Idee nie gekommen, weil für ihn das Agenten-Modell unnütz und überzogen ist. Er kommt mit dem physikalischen Modell bestens aus.

Der Magier Teller zeigt recht eindrucksvoll, dass das Agentenmodell unser Denken dominiert. Am Ende des folgenden Videos sieht man, wie man glaubt, dass er einen Ball von einer Hand in die andere bewegt, weil stimmiges Verhalten für einen Agenten ist, während seine tatsächliche Bewegung widersprüchlich ist: wenn er beide Objekte in der rechten Hand halten möchte, dann kann er es einfacher haben. Er täuscht uns, weil wir die Erklärung für die richtige halten, die zu einem intelligenten Agenten mit Zielen passt. Auch, wenn sie falsch ist.


Der Effekt ist, dass auf etliche Fragen die Antwort: "Weil das jemand so gewollt hat", uns intuitiv wie eine gute Antwort erscheint. Selbst in Umständen, in denen das absolut irreführend ist: Die Frage, warum das Universum an einem kleinen Fleck entstanden ist und sich nun stets ausbreitet, kann man mit dem Agentenmodell nicht annähernd beantworten, weil es Kontext keinen interessanten Agenten gibt. Religion macht sich plausibel, indem sie ein uns bestens vertrautes Modell verwendet, um die wichtigste Frage zu beantworten, warum die Welt so ist, wie sie ist.

Wären wir eine Art Spezies, der das Agentenmodell nicht intuitiv ist, aber dafür den lieben langen Tag die Evolution von Bakterien und Fruchtfliegen beobachtet, dann wäre unsere erste Antwort auf die Frage, woher die Spezii kommen nicht: "Weil jemand das so gewollt hat".

Man muss sich diesen Fehltritt unseres Denkens klarmachen. Befreien kann man sich davon nicht. Wir alle möchten das Auto gern schlagen, wenn es in einem wichtigen Moment nicht anspringt. Weil wir das Auto für einen kurzen Moment als Agent verstehen und dann wäre es richtig, böse zu sein. So sind wir nun einmal gebaut. Auch Atheisten und Philosophen MÖCHTEN GERN IHRE AUTOS PRÜGELN. Aber sie wissen, dass das albern ist.

In der Mathematik muss man das Betrachten gewisser Modelle aus verschiedenen Blickwinkeln lernen. Und man muss sich klarmachen, dass es kein Widerspruch ist. In Mathematik nicht, um im echten Leben schon gar nicht. Religiöse Menschen glauben gern, dass Atheisten plötzlich alles egal wäre, weil in der Welt, die nur aus Atomen besteht, der Begriff Moral sinnlos ist. Sie verstehen nicht, wie wir in einem Satz sagen können, dass die Welt nur aus Physik besteht, und im nächsten Satz den Begriff Moral benutzen. Dabei betrachten wir nur das Universum aus dem jeweils richtigen Blickwinkel: Das Agentenmodell und das Physikmodell schließen sich nicht aus, und Wissenschaftler ergänzen sie noch um einen Reichtum anderer Modelle, die jeweils das gleiche Objekt völlig anders beschreiben.

Im folgenden Video wirken die vier Theologen auf mich ein wenig possierlich, weil sie jeweils interessante Fragen stellen. Und dann sehr interessiert sind, offenbar zum ersten Mal im Leben eine interessante Antwort zu hören. Wie sollte ein Atheist leben? Die Frage ist philosophisch und in gewissem Sinn beginnt Philosophie da, wo Religion endet. Wenn man aufhört, sich mit kindgerechten Pseudo-Antworten abzugeben und nach vernünftigen, gut-begründeten Antworten fragt, dann ist es Philosophie. Und die Antworten, die man bekommen kann, sind so interessant wie vielseitig. Ich liebe "Der Mythos von Sisyphos" und "Der Mensch in der Revolte" als Antworten auf die Frage, wie ein Atheist leben soll. Aber es ist nur eine der vielen Antworten. Atheist zu sein, heißt nicht, dass man irgend einer speziellen Antwort anhängt, sondern nur, dass man eine Begründung verlangt, statt dogmatisch dem angeblichen Willen des Schöpfers zu folgen. Und so für etliche andere Wissenschaften. Die vier Theologen predigen die Nicht-Antwort und prahlen mit ihrer Ignoranz, was weniger possierlich ist: Erstes Video von 12 auf Youtube.

Und damit habe ich für heute genug über Religion gesagt. Wer es solange durchgehalten hat, den interessieren vielleicht Richard Dawkins' Ausführungen zu Modellen der Realität, und wie sie zur Spezies passen müssen.

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